

Dramaturgische Entscheidungen trifft man am besten, schon bevor man an das komplexe Gerüst der eigentlichen Geschichte geht. Natürlich ergeben sich auch im weiteren Verlauf der Story-Entwicklung weitere dramaturgische Feinheiten. Allerdings müssen wir, bevor wir an den Handlungsbogen der Geschichte und an ihre Figuren gehen, zunächst einmal den grundlegenden Ton bzw. das Erzählmuster der Geschichte festlegen.
Die Dramaturgie, die wir an dieser Stelle wählen, bestimmt auf ganz entscheidende Weise die Erzählform unserer Story. Wir sprechen dabei von einer plot- oder einer figurenorientierten Dramaturgie. Der Unterschied besteht ganz einfach darin, was im Vordergrund unserer Handlung steht: entweder der Plot oder die Figuren.
Film-Dramaturgie – nicht nur für Drehbuchautoren
Als 1979 die erste Filmdramaturgie von Syd Field erschien, ging die Drehbuchentwicklung lange Zeit von einem struktur- bzw. plotorientierten Ansatz aus. Auf der Grundlage des 3-Akt-Modells erschuf Field eine äußerst strukturierte Herangehensweise an die Stoffentwicklung, die auch heute noch ihre Anhänger hat. Und auch das Sequenz-Modell, dass die Story in acht in etwa gleich lange Sequenzen aufteilt, und das Prinzip der Heldenreise, sind extrem strukturorientierte Blueprints für die Stoffentwicklung, und basieren ebenfalls auf dem 3-Akter.
Was für die Dramaturgie des Films eine ausschlaggebende Veränderung war, lässt sich natürlich nicht nur auf die Entwicklung von Filmstoffen anwenden. Auch in der Entwicklung von Romanen, Theaterstücken, Erzählungen oder Kurzgeschichten müssen wir uns entweder am Plot oder an den Figuren orientieren. Das plotorientierte Erzählen kennen wir schon aus der alten Tradition des Aristoteles. Große und mächtige Figuren sind es, die uns aus den griechischen Tragödien in Erinnerung bleiben, und doch ist es in letzter Instanz der Plot, der das Handeln der Figuren beeinflusst und lenkt.
Um die Jahrtausendwende hin zum 21. Jahrhundert fand vor allem in der Filmdramaturgie, aber auch im generellen Erzählen, ein Wandel hin zu figurenorientierten Geschichten statt. Wenn im Zentrum der Erzählung nicht der Plot, sondern die Hauptfigur steht, spricht man vom so genannten emotional storytelling. Es sind die Gefühle und Geisteszustände der Figuren, die die Handlung definieren und strukturelle Erzählmuster aufzubrechen vermögen.
Welche Erzählmethode für eine Geschichte aber die „richtige“ ist, muss von Geschichte zu Geschichte neu entschieden werden. Nicht jede Story lässt sich struktur- oder figurenorientiert gleich gut erzählen. Den Unterschied zwischen beiden können wir daran festmachen, wie konventionell eine Geschichte erzählt wird. Eine Story mit einem geraden Verlauf, die keine oder wenig Umweg gemacht, ist strukturorientiert. Geschichten aber, die unkonventionell erzählt sind, Sprünge zwischen Zeitebenen machen oder den Zuschauer auch mal ratlos zurücklassen, entsprechen eher der modernen Erzählstruktur.
2 verschiedene Wege, eine Geschichte zu entwickeln
Das, was den Leser oder den Zuschauer in eine Geschichte hineinzieht, ist häufig das Universale an der Story oder der Figur: Ein kleines Detail im Setting, in der Figurenkonstellation, ein Handlungsschritt der Hauptfigur – kurz: etwas, mit dem er sich identifizieren kann.
Mit dem Paradigmenwechsel hin zum figurenorientierten Erzählen am Anfang des 21. Jahrhunderts wurde ein Weg bereitet, aus den alten dramaturgischen Modellen neue Erzählmöglichkeiten zu entwickeln. Dramaturgin Linda Aronson hält das in ihrem lesenswerten Buch The 21st-Century Screenplay: A Comprehensive Guide to Writing Tomorrow’s Films fest.
Weg #1: Strukturorientiert
Das klar definierte Ziel von strukturorientierten Plots ist, der Erzählung eine Einheit zu geben. Lineare Plot-Modelle wie die 3-Akt-Struktur, die 8-Sequenz-Methode oder auch die Heldenreise basieren auf der äußerlichen Einheit der Handlung. Obwohl die Heldenreise sich offenkundig an der Hauptfigur orientiert, ist sie doch ein sehr fest strukturiertes Modelle der Entwicklung.
Und weil das Ziel, das die Handlung zu erreichen sucht, auch wenn die Handlung selbst im Vordergrund steht, sich immer aus dem Ziel einer Figur herleitet, orientieren sich letztlich natürlich auch die Strukturmodelle an ihren Figuren. Anders als bei einer Handlung, die sich komplett nach der Hauptfigur richtet (Heldenreise), steht dabei jedoch häufig die Figurenkonstellation und nicht eine einzelne Figur im Vordergrund der Entwicklung.
Wird die Erzählweise weg von der konventionellen Struktur gelenkt, ergeben sich neue, unkonventionelle Erzählweisen z.B. daraus, dass die Kausalität oder die Zeit von Handlungen aufgebrochen wird. Dabei spielen aber die alten, bewährten Modelle noch immer eine Rolle. Auch moderne Erzählungen haben 3 oder 4 Akte, und erzählen letztlich eine kausal zusammenhängende Geschichte. Nur wie diese erzählt wird, das ist anders.
Weg #2: Figurenorientiert
Wenn wir figurenorientiert erzählen, bedeutet das, dass wir letztlich vor allem emotional erzählen. In der Praxis kann das bedeuten, dass wir zum Beispiel am Anfang einer Erzählung nur die Sichtweise einer Person, z.B. des (vermeintlichen) Protagonisten, miterleben. Indem wir dann zu einer anderen Person springen, erfahren wir beispielsweise über einen Twist, dass der Protagonist ganz anders ist, als er sich uns vorgestellt hat.
Aber nicht nur durch den Wechsel von Perspektiven, auch durch das Ausbrechen aus Zeit und Kausalität der Handlung können wir eine Erzählung spannender gestalten. Der Film Babel (2006, Drehbuch: Guillermo Arriaga) spielt mit dem Perspektivwechsel, so dass der Zuschauer für lange Zeit in die Irre geführt wird, was die Kausalität der Handlung angeht. Erst im letzten Akt der Handlung erschließt sich, wie die einzelnen Perspektiven zusammenhängen. Criminal Activities (2015, Drehbuch: Robert Lowell) gibt vor, ein lineares Erzählmodell zu bedienen. Erst wenige Minuten vor Schluss, nachdem die eigentliche Handlung bereits abgeschlossen ist, erkennt der Zuschauer, das alles, was er mit den Protagonisten erlebt hat, doch ganz anders war.
Die klassische dramatische Handlung ist letztendlich nichts anderes als eine konventionelle Abfolge von Ereignissen und Entscheidungen. Der Kniff am nicht konventionellen Erzählen ist, dass diese zerschnitten und neu zusammengesetzt wird. Ob es nun verschiedene Erzählperspektiven, die Zeitebenen aus Gegenwart und Vergangenheit oder eine Cliffhanger-Struktur ist, das sind nur verschiedene Spielarten, die konventionelle Erzählung modern zu interpretieren.
Ein Film, der dieses Prinzip auf die Spitze getrieben hat, ist Inception (2010, Drehbuch: Christopher Nolan). Auf bis zu vier Realitätsebenen verlieren nicht nur die Figuren, sondern auch der Zuschauer mehr und mehr die Orientierung, ob das Erlebte/Gesehene in der Realität spielt oder in einer Traumwelt.
Dramaturgie: Was bringen uns Strukturen?
Um eine Story zu entwickeln, brauchen wir – dem gesunden Menschenverstand folgend – vor allem eins: Kreativität! Diese Kreativität in eine Struktur zu pressen, die ihr einen festen Rahmen geben soll – behindert oder fördert das die Kreativität? Die Antwort auf diese Frage wird wohl jeder Autor anders beantworten. Je nachdem, was für ein Schreibtyp man ist, wird man Schemata und feste Strukturen entweder lieben oder hassen.
Um die Kreativität aber mal aus ihren festgefahrenen Gedankenwegen (ja, auch wenn wir uns für free spirits halten) zu reißen, ist es übrigens hilfreich, auch mal etwas auszuprobieren, das nicht dem favorisierten Prinzip entspricht. Das Schema einmal wegzulassen oder bewusst eines heranzuziehen, mit der man eigentlich nichts anfangen kann (oder das immer dachte), kann die kreative Energie ganz schön befeuern.
Gerade in den Anfängen des Schreibens können Strukturen uns helfen, die Prinzipien und den Aufbau von Geschichten zu verstehen. Richtig interessant aber wird es erst, wenn uns diese Schemata und Strukturen so sehr vertraut sind, dass wir uns bewusst über deren Regeln und Grenzen hinwegsetzen können.
2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Gute Darstellung, Christine. In einem Punkt bin ich aber nicht ganz d’accord, nämlich die Heldenreise als rein strukturorientiertes Modell zu betrachten. Was dieses Prinzip den Fieldschen drei Akten (…oder Howardschen 8 Sequenzen oder Freytagschen 5 Akten oder Trubyischen 21 Steps) voraus hat, ist die Besetzung mit einem überschaubaren Set von Charakteren (den Archetypen), die an spezifischen Stellen der Handlung auf bestimmte Weise reagieren oder Impulse geben. Erst, wenn man die Archetypen versteht und mit ihnen umgehen kann, kann man auch mit dem strukturellen Aspekt der Heldenreise effektiv arbeiten; man kann ihn eigentlich nicht losgelöst von ihnen benutzen. Insofern ist die Heldenreise das dramaturgische Konzept, mit dem man beide von Dir beschriebenen Wege beschreiten kann.
Da hat Axel natürlich Recht. Die Heldenreise ist ja per se schon figurenorientiert, weil sie ja den Helden bzw. die Archtypen ins Zentrum stellt. Das hätte ich noch stärker herausarbeiten können und werde das bei Gelegenheit auch tun. Vielen Dank 🙂