

Die besten Romane sind die, die man nicht mehr weglegen kann. Die, bei denen man auch nachts um drei noch das nächste Kapitel verschlingen möchte. Die, die man an einem Wochenende von Anfang bis Ende aufsaugt. Im anglo-amerikanischen Raum werden solche Bücher als Pageturner bezeichnet; und der Begriff hat längst seinen Weg auch in die deutsche Sprache gefunden.
Auf der anderen Seite fallen mir aber immer wieder auch Titel in die Hand, die einfach keine Pageturner sind und auch im Verlauf keine werden. Was macht den Unterschied zwischen diesen Büchern und einem waschechten Pageturner aus? Gehen wir dem einmal auf den Grund und ziehen unsere Schlüsse, was das für unser eigenes Schreiben bedeutet.
Die Kernelemente eines Pageturners
Auf der Suche nach der Pageturner-Rezeptur stolpern wir schnell über die beiden Kernelemente einer spannenden Geschichte – und die bildet natürlich die Grundlage dafür, dass wir ein Buch nicht mehr weglegen können.
- Ein guter Plot.
- Interessante Figuren.
Ohne diese beiden Elemente geht schon mal gar nichts, so viel ist klar. Wichtig dabei ist zu unterscheiden zwischen Plot und Story: Denn der Plot ist der ganz konkrete Handlungsverlauf eines Romans, der von der chronologischen Story abweichen kann. Müssen muss er das natürlich nicht, aber darauf kommen wir später zurück.
Wir brauchen also einen Handlungsverlauf (Plot), der den Leser in Atem hält und ihn Seite für Seite, Kapitel für Kapitel bei der Stange hält.
Und wir brauchen Figuren, die so handeln und entscheiden, dass wir ihnen diese Handlungen glauben. Nur wenn eine Handlung oder Entscheidung sich aus der Figur heraus erklären lässt, sind wir als Leser bereit, den Weg durch hunderte Seiten mit ihr zu gehen.
Plot: Kausalität ist das oberste Gebot
Der Plot, also der Handlungsverlauf einer Geschichte, setzt sich aus verschiedenen Ereignissen zusammen. Ein Ereignis ist dabei (in echten Pageturnern) so aufgebaut, dass es ein weiteres Ereignis anstößt oder eine Figur zu einer Entscheidung zwingt.
Folgt man diesem Schema konsequent, erhält man einen Plot, der kausal, also in einer logischen Folge, aufeinander aufbaut. Jedem Ereignis, jeder Entscheidung geht ein anderes Ereignis, eine andere Entscheidung voran; und aus jeder Entscheidung folgt eine weitere.
Diese kausalen Zusammenhänge machen eine Geschichte erst glaubwürdig. In der kausal zusammenhängenden Folge eines Ereignisses auf das nächste entsteht eine Kette von Ereignissen.
Figuren: Anknüpfungspunkte finden
Die Figuren bilden das zweite Kernelement einer spannenden Geschichte. Im Mittelpunkt muss eine Hauptfigur stehen, die wir direkt als solche erkennen und der wir folgen. Das aber funktioniert nur, wenn wir auch bereit sind, mit ihr mitzugehen und die Ereignisse aus ihrer Sicht zu erleben.
Um das zu erreichen, muss sich Empathie entwicken – wir müssen mit der Figur mitfühlen, müssen sie so sympathisch oder interessant finden, dass wir wissen wollen, was ihr als nächstes geschieht. Und zwar unbedingt wissen wollen.
Es braucht also einen Anknüpfungspunkt, an dem wir mit unserer eigenen Persönlichkeit andocken können, und der uns neugierig macht auf die kommenden Ereignisse.
Dieser Anknüpfungspunkt kann von Roman zu Roman und von Genre zu Genre sehr unterschiedlich sein. Häufig werden dafür Wesenszüge und Ziele der Figuren genutzt. Dabei muss eine Figur noch nicht einmal zwingend sympathisch sein, sondern in erster Linie interessant. Wir wollen mehr über sie erfahren.
Das tun wir, wenn wir ihr Ziel kennenlernen: Nehmen wir zum Beispiel eine klassische Krimihandlung. Das Ziel der Hauptfigur, in der Regel ein(e) Kommissar(in), ist die Lösung eines Kriminalfalls, sagen wir eines Mordes. Interessant wird die Figur aber nicht dadurch, dass sie den Fall lösen will – denn das ist letztlich ihr Job.
Interessant ist, WARUM er oder sie den Fall lösen will. Wenn er das Opfer kennt, schon lange auf der Spur eines Serientäters ist oder sein angekratztes Renommee wieder aufpolieren will, bringen solche privaten Ziele eine ganz andere Dynanik in die Handlung.
Interessant ist auch, WIE er oder sie den Fall löst. Komplett gesetzeskonform, mit Alleingängen oder sogar auf illegalen Wegen? Jede der Varianten macht die Figur greifbarer – und nimmt wiederum Einfluss auf den Handlungsverlauf.
Die Spannung steigern
Die Figuren und eine an sich spannende Handlung sind aber noch nicht das ganze Geheimnis. Wäre wahrscheinlich auch zu einfach. Denn häufig schaffen es auch Bücher, die auf dem Klappentext nach einem spannenden Thriller oder einem zu Herzen gehenden Drama klingen, nicht, mich im Sessel und an den Buchstaben zu halten.
Ein weiterer Punkt, der einen Pageturner von einem durchschnittlichen Roman unterscheidet, ist deshalb der Aufbau der Spannung. In a nutshell: Sie sollte sich steigern, bis zur unausweichlichen Klimax, dem Showdown, der alles bedeutenden Entscheidung. Und zwar im besten Falle so gut, dass ich mir sprichwörtlich die Fingernägel bis aufs Fleisch abkaue.
- Um die Spannung wirkungsvoll steigern zu können, brauchen wir 3 Elemente:
- Ein auslösendes Moment, das die Handlung ins Rollen bringt.
- Ein Ende, das ein actiongeladener Showdown sein kann, aber auch ein Happy End, an dem zwei entfremdete Figuren endlich zueinander finden.
Dazwischen liegt die Handlung, das dritte Element, das sich wiederum in eine Vielzahl kleinerer Handlungsschritte aufsplittet. Und die sollten sich im besten Fall steigern. Dafür müssen die Ereignisse und Entscheidungen im Laufe der Handlung mehr und mehr an Gewicht gewinnen. Wenn ich beim Lesen merke, das beispielsweise das Leben meiner Hauptfigur mit jedem Handlungsschritt mehr und mehr am seidenen Faden hängt, bleibe ich automatisch dran – und will wissen, ob sie am Ende überlebt oder nicht. Und: Wie es dazu kommt.
Der höchste Moment der Spannung ist demzufolge das letzte Ereignis, die letzte Entscheidung vor dem Showdown bzw. der Auflösung. Werden sie sich kriegen? Siegt die Liebe? Wird der Antagonist besiegt? Hat der Held die Kraft sich der dunklen Seite zu widersetzen?
Du weißt nicht, wie du deine Story am besten aufbaust? Wie du einen Storybogen entwickelst, erfährst du in diesem Artikel.
Handlungsstränge verflechten
Die meisten Geschichten setzen sich aus verschiedenen Handlungssträngen zusammen. Nur selten folgen wir ausschließlich einer einzigen Figur, sondern mehreren. Oft fehlen uns auf den ersten 100 Seiten die Zusammenhänge zwischen einzelnen Figuren. Aber je weiter die Handlung fortschreitet, desto mehr Querverbindungen werden zwischen den einzlenen Handlungssträngen sichtbar. Wir sprechen dann von einem A-Plot, einem B-Plot, einem C-Plot.
Um spannend zu erzählen, brauchen wir in der Regel eine Haupthandlung – den A-Plot. In dieser Storyline (Handlungsstrang A) passiert die Haupthandlung. Die Nebenhandlungen B, C, etc. verbinden sich mehr und mehr mit der Haupthandlung, bis sichtbar wird, dass es sich doch um eine einzige Geschichte handelt.
Die Kunst, spannend zu erzählen, besteht darin, die einzelnen Handlungsstränge effektvoll miteinander zu verflechten. Ein perfektes Beispiel dafür ist Frank Schätzings „Der Schwarm“. Über den Verlauf der ersten Kapitel lernen wir zahlreiche Figuren kennen, die sich an verschiedenen Orten weltweit befinden und in keinerlei erkennbarem Zusammenhang zueinander stehen. Erst im Laufe der Handlung wird klar, dass und wie sie mit der Handlung verbunden sind – ihre Bedeutung für den Plot und das Figurengeflecht offenbaren sich, indem die Handlung fortschreitet.
Das hat zum Ziel (und zum Effekt), dass sich auch die anderen Figuren, die während der Handlung mal mehr, mal weniger im Vordergrund stehen, stets präsent bleiben, und das in zunehmendem Maße, je mehr sich die einzelnen Handlungsstränge ineinander weben.
Cliffhanger platzieren
Bleiben wir noch für einen Moment beim „Schwarm“. Der Autor wechselt mit jedem Kapitel die Perspektive, zwingt uns von einer Figur zur nächsten zu springen. Um das mit dem größtmöglichen Effekt zu tun, nutzt er den in der Spannungsliteratur längst zur Pflichtübung gewordenen Cliffhanger.
Am Ende eines jeden Kapitels gibt es keinen Abschluss. Etwas bleibt offen: Eine Frage schwebt im Raum, eine Entscheidung will getroffen werden, eine Figur befindet sich in Gefahr. Genau diese Art den Plot zu gestalten ist eines der wichtigsten Elemente eines Pageturners – anstatt zum Ende eines Kapitels einen handlungsschritt auszuerzählen, stoppen wir an dem Punkt, an dem es am spannendsten ist.
Nur dass das folgende Kapitel sich um eine ganz anderen Figur dreht. Erst ein, zwei, vielleicht sogar drei Kapitel später erfahren wir, wie es mit der Entscheidung und der Figur weitergeht. Der Effekt: In der Zwischenzeit bleibt das Schicksal dieser Figur in unserem Kopf – wir warten darauf, DASS es weitergeht, und hangeln uns von Kapitel zu Kapitel.
Ein guter (d.h. echter) Pageturner wendet dieses Prinzip nicht einmal, sondern immer wieder an. Nicht nur in der Haupthandlung, sondern auch in den Nebensträngen. Und es funktioniert: Den „Schwarm“, das weiß ich noch, konnte ich kaum aus den Händen legen.
Ein Blick zu Film und Fernsehen
Cliffhanger begegnen uns aber natürlich nicht nur im Roman. Schon das ganz klassische Fernsehen hat sich das Erzählprinzip, im Moment der größten Spannung auszusteigen, zunutze gemacht – zumindest seit es Werbepausen gibt.
Thriller und Horrorfilme hangeln sich ebenfalls von Cliffhanger zu Cliffhanger. Dort fällt es uns allerdings nicht so auf, weil die Handlung direkt weitergeht. Aber auch hier finden wir das Prinzip, dass Handlungsstränge auf diese Weise miteinander verflochten werden: Eine Szene mit einem Cliffhanger führt meistens dazu, dass erstmal eine andere Figur weitererzählt wird, bevor die Spannung aufgelöst wird.
Ganz besonders deutlich tritt das Cliffhanger-Prinzip in horizontal erzählten Serien zutage. Hier ist es nicht das Ende einer Szene, sondern einer Folge (wenn nicht sogar der Staffel), das möglichst offen und so spannend wie möglich gestaltet wird. Denn je ungewisser der Ausgang einer Situation am Ende einer Folge ist, desto wahrscheinlicher schaltet der Zuschauer in der nächsten Woche wieder ein – oder schnappt sich im „Binge-Modus“ direkt die nächste Folge.
Einen Pageturner schreiben – kleine Checkliste für die Schreibpraxis
Rückwirkend die Elemente eines Pageturners zu identifizieren, fällt vergleichsweise leicht. Trotzdem ist es nicht leicht, einen Pageturner zu schreiben. Es erfordert eine gute Planung und eine genaue Kenntnis von Plot und Figuren.
Es ist viel Arbeit. Aber – es ist nicht unmöglich.
Um dir den Einstieg zu erleichtern und deinen Geist fit zu machen für die Elemente, die ein Pageturner haben sollte, habe ich einen kleinen Fragenkatalog zusammengestellt (der allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt). Er kann dir schon bei der Entwicklung einer Story behilflich sein, aber auch zur Überprüfung eines fertigen Plots dienen:
- Ist meine Story spannend (Thema, Konflikt, etc.)?
- Bauen die Ereignisse kausal aufeinander auf, d. h. bedingen sie einander?
- Sind meine Figuren glaubwürdig?
- Haben meine Figuren Wesenszüge, die mich emotional berühren (Empathie)?
- Können meine Leser an die Figuren andocken?
- Haben meine Figuren ein glaubwürdiges Ziel, auf das alle ihre Handlungen ausgerichtet sind?
- Gibt es ein auslösendes Moment, von dem die gesamte Handlung ausgeht?
- Gibt es ein definitives Ende, auf das alle Handlungsschritte und Entscheidungen ausgerichtet sind?
- Steigern sich einzelnen Handlungsschritte in ihrem Grad der Spannung?
- Gibt es neben der Haupthandlung (A-Plot) weitere Handlungsstränge? (B-Plot, C-Plot)
- Werden die einzelnen Handlungsstränge abwechselnd erzählt?
- Enden die (meisten) Kapitel mit einem Cliffhanger?
Mein Tipp aus dem Schreiballtag: Die Fragen beim Schreiben immer mal wieder heranziehen und den Plot einer kurzen Überprüfung unterziehen. Wenn du diese Fragen immer im Hinterkopf hast, wird sich dein Schreiben nach einiger Zeit automatisch hin zum spannenderen Schreiben bewegen.
PS: Meine Fingernägel erfreuen sich übrigens bester Gesundheit. Trotz spannender Lektüre (und Serien).